NOIZZ.de: „Germania“ ist eine Videoreihe von funk, bei der Protagonist*innen über über ihr Identitätsgefühl, ihre Wurzeln, Orte und Regionen sprechen. Der Autor Juri Sternburg hat nun das Buch dazu geschrieben. Er erzählt unter anderem die Heimatgeschichten von Rapper Capital Bra und YouTuberin Hatice Schmidt. Geschichten, die selbst Journalisten wie er so noch nicht gehört haben.

Der erste Vers des alten Volkslieds „Am Brunnen vor dem Tore“ hat sich zu einer Art Hymne im Deutschrap etabliert. Es ist die Titelmelodie von „Germania“, einer Videoreihe von funk, die mittlerweile nicht nur Rapper*innen vor die Kamera holt. Was das kleine Team aus Redakteuri*innen, Kameraleuten und Cutter mit ihren vierminütigen Clips zeigen möchte, scheint 2016 noch keiner zu verstehen. Seitdem wurde „Germania“ auf YouTube über 41 Millionen Mal aufgerufen und mit dem Grimme-Preis in der Kategorie „Kinder & Jugend“ sowie der Goldenen Kamera geehrt.

Das Problem: Bei 4-Minuten-Clips bleibt jede Menge Filmmaterial liegen. Filmmaterial mit so vielen Geschichten, die erzählt werden möchten – und sollten. Juri Sternburg hat sich dieser Aufgabe gewidmet. Der Autor, Journalistin und Dramatiker hat nun das dazugehörige Buch „Das ist Germania“ geschrieben.

Warum es ein Buch braucht, wenn es doch dazu schon eine Videoreihe mit den gleichen Protagonist*innen gibt? Der 36-Jährige meint, dass sich durch sein Wirken als Autor ein ganz neuer Blickwinkel aufgetan hat. Das stimmt, ist aber bescheiden ausgedruckt. Es sind nicht nur Geschichten und die Protagonist*innen, die „Das ist Germania“ so besonders machen – sondern auch Sternburgs Art und Weise, sie (neu) zu erzählen.Juri SternburgFoto: Fotograf / William Minke

Juri Sternburg über „Das ist Germania“ im NOIZZ-Interview

NOIZZ: In dem Vorwort wird beschrieben, dass sich das „Germania“-Team immer wieder bei einem Italiener in Kreuzberg trifft. Um eine Stelle zu zitieren: Kam die Idee für das Buch auch bei „unangenehmem Prosecco und Trüffel-Spaghetti“?

Juri Sternburg: Ich muss gestehen, dass die Idee mit dem Buch nicht meine war. Das Team von „Germania“ kam auf mich zu. Aber ich habe ziemlich schnell gemerkt, dass ich entgegen meiner Erwartungen die Geschichten viel spannender fand als ich gedacht hätte.

Wie ich im Vorwort geschrieben habe: Braucht es wirklich noch ein Buch, wo erklärt wird, dass Migrant*innen zu Deutschland gehören? Ist das keine Selbstverständlichkeit? Ich habe mir dann das Filmmaterial angeschaut und ziemlich schnell gemerkt, dass Geschichten dabei sind, die auch ich – der sich in dieser Journalismus-Blase bewegt – so noch nicht so gehört habe. Auch von Leuten, die ich zum großen Teil bewundere und schon seit 15 Jahren höre.Das ist Germania, das BuchFoto: Cover / Droemer Verlag

Warum braucht es noch ein Buch, wenn es bereits das dazugehörige Videoformat gibt – mit den gleiche Protagonist*innen?

Sternburg: Wir haben in dem Buch ganz viel Material drin, das bisher nicht zu sehen war. Es gibt es bei jedem Protagonist und jeder Protagonistin Filmmaterial von über zwei Stunden – die Videos von „Germania“ sind aber nur vier Minuten lang. Mithilfe dieses Materials habe ich begonnen, die Kapitel zu schreiben.

Dann habe ich oft noch mal persönlich nachgefragt. Das war mal einfacher, mal etwas schwerer. Mit Kool Savas bin ich eh ab und zu in Kontakt, das war dann zum Beispiel ein reger Austausch. Mit ihm und anderen Leuten habe ich dann zusätzlich persönlich gesprochen.

Es gab die Überlegung, ob wir neue Protagonist*innen dazu holen, die bisher noch nicht bei Germania gezeigt wurden. Aber wir haben uns dazu entschieden, die besten Geschichten auszuwählen und weiterzuerzählen, die bereits als Videoformat zu sehen sind.

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Wer in einem Interview über seine Vergangenheit spricht, der lässt Stilmittel weg, die im Rap oder auch bei der Dramaturgie üblich sind. Das ist eine ganz andere Erzählweise. Sind die Texte im Buch ehrlicher?

Sternburg: Ich glaube, dass sich durch mein Wirken ein ganz neuer Blickwinkel aufgetan hat. Im Video erzählt beispielsweise Massiv, was ihm alles schon widerfahren ist. Dann gibt es aber meist noch eine Einordnung von mir, und die Geschichte vermischt sich mit eigenen Erlebnissen. Es gibt aber auch Fälle wie bei Hatice Schmidt, wo die Protagonist*innen Sachen im Gespräch begriffen haben, die davor noch nicht so klar waren.

Hatice Schmidt hat in dem „Germania“-Video beispielsweise beschrieben, wie ihre Eltern dazu neigten, sie mit Nageln zu piksen oder sie nachts auf den Balkon zu stellen. Sie meinte, dass das keine Kindesmisshandlung sei. Es ist zwar sehr löblich von ihr, dass sie das so sieht – aber natürlich ist es das.

Vorgestern hat sie dann live auf Instagram aus ihrem Kapitel vorgelesen und konnte diese Stelle nicht fortsetzen, hat angefangen zu weinen. Ich hatte das Gefühl, dass sie das nun aus einem ganz anderen Blickwinkel sieht. Ich möchte ihre Lebensgeschichte nicht neu interpretieren – das weiß sie definitiv besser. Aber der Blick von mir, von außen, hat bestimmt dazu beigetragen, dass neue Geschichten entstehen.

Wenn dir gesagt wird, dass du kein Deutscher bist, dann fragst du dich zurecht: Was bin ich dann?

Welche Geschichte ist dir sonst besonders im Gedächtnis geblieben?

Sternburg: Ich fand die Geschichte von Massiv ebenfalls sehr interessant, weil sie überhaupt nicht meinen Überzeugungen entspricht. Massiv sagt in seinem Kapitel, dass es in Deutschland jeder schaffen kann, man müsse dafür nur hart genug arbeiten. Wer bin ich, ihm seine Erfahrungen abzusprechen? Auf der anderen Seite ist das eine sehr naive Sicht auf Voraussetzungen. So stellt sich die Frage: Wer hat welche Bildungschancen?

Aber ich finde es trotzdem spannend, mich damit auseinanderzusetzen. So hat Kool Savas beispielsweise erzählt, dass er erst während der Flüchtlingskrise 2015 begriffen hat, dass er ein Flüchtlingskind ist. Für ihn stand das davor gar nicht zur Debatte. Das kam erst durch die mediale Welle und Stimmen von außen.

Warum wird der Heimat-Aspekt gerade im Deutschrap immer wieder so hervorgehoben?

Sternburg: Es ist Fakt, dass aktueller Deutschrap zu einem großen Teil migrantisch geprägt ist. Wenn du dich in deiner neuen Heimat nicht akzeptiert fühlst und noch nicht den Schritt gemacht hast, Nationalismus und Grenzen als Konstrukte zu überwinden, dann ist es vollkommen logisch, dass du dich umschaust. Was gibt es noch? Das Land der Eltern. Wenn dir gesagt wird, dass du kein Deutscher bist, dann fragst du dich zurecht: Was bin ich dann?

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Insofern gibt es diesen Nationalismus wie überall auch im Deutschrap. Dieses „Fahnenschwingen“ – man wird ja immer wieder gefragt, wieso das alle anderen machen dürfen, nur die Deutschen nicht. Das ist ein kompletter Denkfehler. Es wäre wünschenswert, wenn alle anderen Nationalismus ebenfalls überwinden können.

Lässt sich am Ende zusammenfassen, was „Germania“ für die Rapper*innen bedeutet?

Sternburg: Das kann ich nicht sagen – das ist aber auch das Schöne daran. Es gab komplett unterschiedliche Sichtweisen. Um an dieser Stelle ein wenig Werbung zu machen: Genau das hat mich persönlich überzeugt, darüber bin ich froh. Das Buch ist nicht für irgendwelche Rap-Nerds, die noch mehr über Savas erfahren wollen. Sondern für komplett unterschiedliche Menschen.

Für Eltern, die verstehen möchten, was ihre Kinder hören. Für die jüngere Generation, die Playlisten auf Spotify rauf und runter spielen – aber nicht wissen, wer hinter der Musik steckt. Aber auch für eine Ü40-Generation, für die vielleicht Social Media und aktueller Deutschrap das Übel unserer Zeit ist. Für die kann das Buch eine gute Sachen sein.

Es gibt unterschiedliche Geschichten und Ansichten – das macht es so schön.

Zum Buch:

„Das ist Germania – Die Größen des Deutschrap über Heimat und Freunde“ von Juri Sternburg erscheint am 1. September 2020 beim Droemer Verlag. Die gebundene Ausgabe hat 256 Seiten und kostet 20 Euro, das E-Book: 16,99 Euro. Vorbestellungen möglich.

Foto: Germania Promo / Kool Savas

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