NOIZZ.de: Stay Home. Stay Heimat. Das Dorf ist in Zeiten der Ausgangssperre ein Paradies, im Gegensatz zu Großstädten wie Berlin. Der Covid-19-Virus hilft, kleine Dinge wertzuschätzen – sogar den Nachbarn am Fenster, der an Will Smith erinnert.

Werner hockt jeden Tag am Fenster. Erster Stock, Ecke Vandanserstraße. Beobachtet ihn keiner, spuckt er über seine Topfpflanzen auf die Straße. Er pflegt seine Geranien und Petunien mehr als sich selbst. Wenn nur ein Mensch Corona überlebt, dann er. „Stay home“ ist sein Motto, schon immer. Werner und mein Dorf haben eine Sache gemeinsam: Ich fand sie beide nervig, manchmal. Doch in Zeiten von Corona geben sie mir Halt.

„Wem g´hörsch au du?“ – Niemanden.

Eigentlich ist Heitersheim eine Stadt, hat aber Dorf-Charakter. Knapp 6040 Leute leben hier zwischen dem Schwarzwald und dem Elsass, im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald. Die Schneiders kennen die Fünfgelds und die Pfefferles die Müllers. Die Restaurants heißen Krone, Kreuz und Löwen – wie überall in der Region. Hier wird nicht alemannisch gesprochen, sondern geschwätzt. Elf Jahre habe ich gebraucht, um zu verstehen, was „luege mol“ bedeutet. Das heißt schauen, nicht lügen. Auf die Frage „wem g´hörsch au du?“ habe ich immer mit „ich gehöre niemanden“ geantwortet. Dabei wollten die Leute nur wissen, wie meine Eltern heißen.

Ich bin hier aufgewachsen, habe aber nie so richtig dazugehört. Wenn deine Urgroßeltern nicht schon in Heitersheim gewohnt haben, dann bist du kein richtiger Heitersheimer. Das war für mich okay, ich habe mein Dorf trotzdem geliebt – als ich klein war. Mit meinem besten Freund Julius Räuber und Gendarm spielen, das war für mich das Größte. Mit Kreide Parkplätze auf den Beton der Fußgängerzone kritzeln. Im Bächle planschen. Wasserbomben werfen. Das war herrlich. Doch je größer man wird, desto kleiner wird das Dorf. Ich habe es immer geliebt, mich nur manchmal eingeengt gefühlt.

Den Nachbarn beim Bäcker treffen: Ein Highlight

Ständig wollen die Leute wissen, wie weit ich mit meinem Studium bin. Warum letzte Woche kein Artikel von mir in der Zeitung war. Seit wann ich wieder in der Heimat bin. Ob ich noch Tennis spiele. „Warum nicht, du warst doch immer gut“, fragen sie dann. Auf die Antwort, dass mir der Sport mit Studium und Arbeit zu viel sei, folgt meist ein verkrampftes Lächeln. Als hätten sie kein Verständnis. Einfach mal spazieren gehen, ohne jedem grüß Gott zu sagen – das ist kaum möglich. Und dann noch Werner, der Big Brother, der alles beobachtet: Wie ich die Tüten in die Wohnung trage, wann und wie lange ich mit dem Hund rausgehe, was ich anhabe. Früher hat er noch gegrüßt. Heute zieht er nur den Rauch seiner Kippe in die Lunge und schaut grimmig. Ach, Werner. Seit ich vor acht Jahren mit meiner Mutter in die Wohnung gegenüber gezogen bin, habe ich ihn nur einmal in ganzer Körpergröße gesehen. Beim Bäcker Kaiser, zwei Gehminuten von unserer Straße entfernt. Das war damals ein kleines Ereignis. Aber ich wollte mehr, als Werner abseits von seinem Fenster sehen. Ich wollte raus und etwas erleben.

Erst Freiburg, dann Berlin. Remmidemmi statt Reben. Straßenslang statt Straußwirtschaften. Baklava statt Bibeleskäs. Ein Umzug war bereits geplant, dann kam Corona. Homeoffice geht auch in der Heimat, dafür musste ich nicht extra meine Koffer packen, wieder eine Wohnung suchen und Miete zahlen. Abgesehen davon ist Reisen weder sinnvoll noch gut möglich. Am Anfang dachte ich, das sei Pech. Ich wollte, was ich nicht haben konnte. Ich wollte mehr. Doch die Ausgangssperre hat mich gezwungen, mit der Situation klarzukommen. Das schätzen und lieben zu lernen, was ich habe. In Berlin kann ich mich nicht mal eben unterhalten, weil mich keiner kennt. Heute freue ich mich, wenn Nachbarn aus der Ferne zuwinken: „Gehts gut? Ja und selbst? Schönen Tag noch, gell! Merci gseit.“

Will Smith am Fenster, nur nicht so cool

Es sind die kleinen Dinge, die mich glücklich machen. Der Freund, der einen trotz Entfernung zum Lachen bringt. Der Hund, der im Homeoffice auf dem Schoß schläft. Die Mama, die im Zimmer nebenan arbeitet und immer da ist. Aus der Haustüre rausgehen und allein spazieren gehen, das ist in Großstädten nicht so einfach. Hier, im Markgräflerland, laufe ich durch die Reben, hoch zum Wasserturm und sehe niemanden – außer grüne Landschaften und die Sonne, die im Elsass untergeht. Die Stille, die ich hinter mir lassen wollte, hilft mir in einer unruhigen Zeit. Das tut gut. Das schätze ich. Wie Werner.

Er hat mich genervt, wie vieles hier. Irgendwann habe ich aber begriffen: Solange er mit seinem Kopf über die Geranien blickt, ist alles gut – ein klein bisschen so, wie früher. Werner ist eine Konstante in meinem Leben. Eine Konstante, die sich mit dem Bierbauch an das Fenster lehnt. Er ist wie Will Smith in „I am Legend“. Nur in Heitersheim, statt New York City – und nicht so cool.

Egal wie schwierig das bei all den schlechten Nachrichten und den Sorgen ist: Man sollte versuchen, kleine Dinge wieder wertzuschätzen. Wie ich mein Dorf.

Foto: Patrick Fore @patrickian4 Unsplash

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