NOIZZ.de: Stell dir vor, du bist Alice im Wunderland und bei der Teeparty sind alle nackt. Na gut, halbnackt. Die Herzkönigin hat ihre Brüste in ein rotes Korsett geschnürt. Das weiße Kaninchen: ein Mann mit Hasenohren als Haarreif, dessen Po nur ein weißer Puschel ziert – vermutlich ein Analplug. Alice? Das bin ich, auf dem Weg in das Wunderland der Fetischisten, den Kitkat Club in Berlin. Mit Vorfreude, Spannung und der Frage: Wer hat hier eigentlich den Verstand verloren?

„Warum Fetisch-Veteranen nicht in Latex-Windeln geboren sind“

Immer wieder hat man mir Geschichten aus Berliner Clubs erzählt. Abstruse Geschichten von Menschen in Lack und Leder, die sich auf der Tanzfläche in Ekstase lieben, während Techno-Mukke aus der Anlage wummert. Ich wollte wissen, ob das wirklich stimmt. Mich hat das Berlin interessiert, das ich noch nicht erkundet habe. Das Berlin, für das man sich stundenlang anstellen muss und dessen Eintritt nur knallharte Türsteher gewähren.

Dann habe ich auf Facebook eine Veranstaltung gesehen: „Four Play feat. Kinky Galore by Jan Ehret“. Jan, ein bekannter DJ, und ich haben eine Sache gemeinsam: Wir kommen beide ursprünglich aus Freiburg. Ich habe über seinen Kontakt die Möglichkeit über die Party zu berichten – und einen Grund in das Kitkat zu gehen. Natürlich aus rein beruflichen Gründen. Ja, ich habe eine Ausrede gesucht.

Aber warum? Vielleicht überwiegt meine Scham die Neugierde. Leute zu beobachten, wie sie ihre Neigungen offen ausleben, ist für mich fremd. Doch irgendeinen Reiz muss das doch haben – warum sonst sollten Menschen Stunden in einer Schlange warten? Ich will diesem Reiz nachgehen. Mit Kopfnicken lese ich die Veranstaltungsbeschreibung:

„Vielleicht kennst du dieses Gefühl, seit Längerem von einer Sache fasziniert zu sein …“

Fasziniert? Interessiert.

„… du weißt aber nicht genau, wo du damit anfangen sollst.“

Korrekt.

„Dabei sind selbst Fetisch-Veteranen nicht mit Latex-Windeln groß geworden! Es mag nicht immer einfach sein, die richtige Gelegenheit zu finden. Und genau da kommt Four Play ins (Vor)Spiel.“

Bei „Fetisch-Veteranen in Latex-Windeln“ leuchtet die Clickbaiting-Lampe in meinem Journalisten-Hirn grün. Auf der Party ist von „Sex Wrestling“ und „Vulva Crafting“ die Rede. Ich finde, das ist ein Selbstversuch, wie von Gott geschaffen.

Four-Play: der Hutmacher, der durch das Wunderland führt

Ich recherchiere weiter. Was ist dieses Four Play genau? „Wir sind ein Party-Team namens Section8. Wir machen seit ein paar Jahren verschiedene Projekte mit großen Clubs in Berlin. Eines unserer Projekte, Four Play, ist mittlerweile ziemlich groß geworden“, sagt mir Marion Cobretti, der zudem auch DJ ist, am Telefon. Er hat sich mit seinem Team ein Konzept überlegt, das auch für Einsteiger geeignet ist. Für Leute, die ihre Fantasien nicht im Alltag ausleben wollen, aber trotzdem die Lust haben, sich mal auszuprobieren. „Es gibt viele Sex-positive Partys in Berlin. Aber die meisten gehören einer bestimmten Szene an“, sagt er. „Wir bieten nun eine Feiermöglichkeit für Leute, die nicht aus dieser Szene kommen. Sie können sich bei den Workshops informieren oder auch einfach nur tanzen.“

>> Der Abend wurde von Martin Peterdamm in Fotos festgehalten: Eine Nacht mit Kitkat-DJ Jan Ehret – zwischen Latex-Stiefeln und Fesselkunst

Eine Party, geschaffen für Fetischfrischfleisch wie mich. Wenige Tage später stehe ich – dank Gästeliste – im Club vor der Garderobe und gebe mein Handy und meine Tasche ab. Für alle, die keine Ahnung haben: Das ist der Moment, in dem es ernst wird. Klamotten? Tschüssikowski.

Der Sprung in den Kaninchenbau

Mit jedem Kleidungsstück, das ich über meinen Kopf ziehe, falle ich in eine andere Welt. Zugegeben: Disney-Alice sieht im Gegensatz zu mir ziemlich spießig aus. Wobei ich im Gegensatz zu den anderen Besuchern aussehe wie Disney-Alice: brav.

Mit gewellten Haaren, schwarzem Faltenrock und Spitzen-BH laufe ich auf hohen Hacken durch den Club. Ich schaue nach links: ein Pool mit offenem Sternenhimmel. Liegen auf denen Paare ihre Schenkel streicheln. Ich schaue nach rechts: ein Mann, der breitbeinig auf einem Sessel sitzt und seinen erigierten Penis präsentiert. In der anderen Ecke kniet eine Frau vor ihrem Partner und – nun ja – „pustet“. Alles wirkt wie ein abgefahrener 3D-Porno, der mit geiler Musik unterlegt ist.

Ich hatte erwartet, dass die Location düsterer wirkt und der Großteil der Menschen nackt ist. Dabei tragen ein paar Besucher sogar mehr als vor dem Club. Sie haben sich farbenfrohe Kostüme, Netzstrumpfhosen und Lederhosen mit Reißverschluss übergezogen. Ich merke: Es geht nicht primär darum, viel Haut zu zeigen, sondern in eine Rolle zu schlüpfen, in der man auffällt, sich aber auch wohl fühlt. Warum? Vielleicht um dem Alltag zu entfliehen.

Die Besucher sind keine Freaks, wie viele mutmaßen würden, sondern ziemlich normal. Zugegeben, „normal“ lässt sich nicht definieren. Was ich damit meine: In der Mitte der Tanzfläche steht eine Frau auf einem Podest, die sich fesseln lässt. Ihre Brüste sind zwischen dicken Seilen geschnürt. Ihr Blick ist starr, konzentriert, aber zugleich voller Lust. Wäre ich ihr auf der Straße begegnet, hätte ich ihr das wohl nie zugetraut. Ich ertappe mich selbst dabei, wie ich in Stereotypen denke. Vielleicht steckt in jedem Menschen ein kleiner „Freak“, nur haben die wenigsten den Mut, ihn so exzessiv auszuleben. „Den Verstand verlieren, das macht die Besten aus“ – das wohl passendste Zitat aus „Alice im Wunderland“.

„Würdest du mir bitte sagen, wie ich von hier aus weitergehen soll?“

Ich treffe auf Jan, der seine Augenlider mit einem roten Streifen bemalt hat. Er legt seit Jahren regelmäßig im Kitkat auf und wird von allen Seiten mit Küsschen und Händeschütteln begrüßt. Der Resident DJ führt mich durch den Club, zeigt mir die Ecken, wo es Crossdressing und Bodypainting gibt. Es wird tatsächlich ein Spanking- und Vulva-Crafting-Workshop angeboten, sowie Question-and-Answer für Bondage. Nein, ich habe da nicht mitgemacht. Nennt mich Spießer, Kitkat-Jungfrau, meinetwegen.

Für das Sex-Wrestling, das wenig später stattfinden soll, ist neben dem Pool ein kleines Kinder-Planschbecken aufgebaut. Trotz der vielen abstrusen Dinge, fühle ich mich zu keinem Zeitpunkt unwohl. Ich werde angeschaut und begutachtet, aber nicht begrapscht. Die Menschen erkunden mit Feingefühl, Blicken, ob man für „mehr“ bereit ist.

„Würdest du mir bitte sagen, wie ich von hier aus weitergehen soll?“, hat Alice im Wunderland gefragt. „Das hängt zum großen Teil davon ab, wohin du möchtest“, antwortete die Katze. Theoretisch könnte ich sogar in den Keller – noch weiter in eine Welt fallen, die mir so verrückt vorkommt. Ich könnte mich ebenfalls fesseln und schlagen lassen und die Welt des Sadomasochismus erklärt bekommen.

Doch bei der Vorstellung, inmitten von tanzenden Menschen zu schnackseln, schüttle ich den Kopf. So gehöre ich eher zu den Leuten, die beobachten. Gucken, nicht anfassen. Das ist okay, teilweise sogar erwünscht. Hinter einer Gitterwand hat ein Pärchen Sex, andere auf zurechtgemachten Betten. Warum man so etwas Intimes mit fremden Menschen teilt? Vielleicht ist es die Suche nach mehr, dem Extrem, dem Kick.

Wenn man den vierten Blowjob sieht, ist man allerdings nicht mehr überrascht. Penis und Brüste? Okay, wow. Was mich aber weiterhin fasziniert, sind die Kostüme der Menschen und ihre Verhaltensweisen. Ich merke, dass sie nicht immer in Rollen schlüpfen. Im Gegenteil. Sie legen ihre Rolle ab und sind vielleicht zum ersten Mal sie selbst. Andere wiederum scheinen sich hinter ihrem Kostüm zu verstecken, wirken unsicher. Ob das vielleicht zum (Vor)-Spiel dazugehört? Wer weiß.

Von Stunde zu Stunde werden die Sexszenen immer heißer, die Tänze auf dem Dancefloor wilder und die Musik gefühlt immer lauter. Ganz alleine im Club fühle ich mich irgendwann doch etwas verloren. Ich weiß nicht, durch welche Tür ich als Nächstes laufen soll. Also gehe ich nach draußen, um eine Freundin abzuholen.

Diedeldei und Diedeldum, die ihren Job machen

Ich zeige dem Türsteher mein Bändchen, um ihm klar zu machen, dass ich wiederkomme. „Sie gehört zu mir“, sage ich und will meine Freundin reinbringen, zu dem Stand für die Gästeliste. Dabei übersehe ich allerdings, dass die Schlange links für die Gästeliste mittlerweile genauso lang ist wie die Schlange rechts für alle anderen. Der Türsteher scheint sichtlich genervt. „Was bildest du dir ein, hier einfach Leute reinzuholen?“, fragt er mit angepisstem Blick. Ich entschuldige mich für das Missverständnis. Hilft nichts, ich soll meine Sachen holen und mich verpissen. Kein Sex-Wrestling. Meine kleine Wunderweltblase ist geplatzt.

Zum ersten Mal fühle ich mich ein wenig nackt, entblößt. Doch was wären Berliner Türsteher, die einknicken und klein beigeben? Bei Alice wohl nur Diedeldei und Diedeldum. Aber auch die machen nur ihren Job: Sie beobachten ganz genau, wer in das Loch des Kaninchenbaus fällt – und ob man die Welt so lässt, wie sie ist. Eine Welt, die von Paradoxa und Absurditäten nur so strotzt.

Foto: Martin Peterdamm
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